Unterrichtsstörungen: Reframing für den Schulalltag nutzen
Du machst es. Ich mache es. Alle machen es. Fast jeden Tag: Umdeuten. Ein Glas fällt auf den Boden? Halb so wild: Scherben bringen schließlich Glück! Du stehst im Supermarkt an der „falschen“ Kasse an? Wunderbar, sonst hättest du den netten junge Mann vor dir nicht kennengelernt. Ein Nachbar vergreift sich dir gegenüber im Ton? Bestimmt hat er es nicht so gemeint, sondern hatte nur einen schlechten Tag.
Die Strategie des Umdeutens hilft uns, einem Malheur nicht zu große Bedeutung beizumessen, das „Gute am Schlechten“ zu sehen oder nicht alles persönlich zu nehmen. Die Sache bleibt die Gleiche, sie wird aber anders bewertet. Diese Technik des „Reframing“ ist eine gängige Methode in der systemischen Therapie und Beratung. Auch in der Schule kann sie gewinnbringend eingesetzt werden, vor allem im Umgang mit Unterrichtsstörungen: Lehrkräfte können Verhaltensweisen umdeuten, indem sie sie anders interpretieren oder in einen anderen Zusammenhang stellen.
meinUnterricht: Beim Reframing geht es zunächst um einen Perspektivenwechsel und weniger um konkrete Handlungsempfehlungen für den Umgang mit Unterrichtsstörungen. Warum ist es so wichtig, die (Störungs-) Situationen im Klassenzimmer immer wieder neu zu betrachten?
Stephanie Harkcom: Jede Situation ist einmalig. Und jede Reaktion auf sie ist es auch. Das macht es erforderlich, dass man sich auf jede Situation aufs Neue einstellt. Es gibt aber bestimmte, sich wiederholende Muster. Auf die kann man besser vorbereitet sein, wenn man ein gut gefülltes Interventionsköfferchen bei sich hat. Eine Handlungsempfehlung auszusprechen halte ich für problematisch, weil die Empfehlung möglicherweise weder zu der Person noch zur Situation passt.
Der Perspektivenwechsel schafft Distanz: Der von Schülerseite (vermeintlich) abgeschossene Pfeil trifft mich nicht persönlich. Dadurch betrachte ich die Störung nicht mehr als einen Affront gegen mich, sondern als „Kontaktangebot“. Die Distanz, die ich durch ein Reframing herstelle, ermöglicht mir damit (eher) mit kühlem Kopf zu reagieren.
meinUnterricht: In Ihrem Buch raten Sie Lehrkräften, eine Störungsdiagnose durchzuführen – auch um zu entscheiden, welche Unterrichtsstörungen tolerierbar sind. Warum ist es wichtig, diese Unterscheidung zu treffen und wo könnte eine Grenze verlaufen?
Harkcom: Allein schon aus Gründen des Selbstschutzes ist es wichtig, diese Unterscheidung zu treffen. Würde ich als Lehrkraft auf jede Störung reagieren, wäre Unterricht unmöglich. Wo die Grenze zwischen einer tolerierbaren und nicht mehr tolerierbaren Störung verläuft, lässt sich nicht pauschal sagen: Eben dort, wo ich selbst die Störung als nicht mehr hinnehmbar empfinde.
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meinUnterricht: Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst haben häufig das Gefühl, eine bereits eingefahrene Situation in der Klasse vorzufinden und während ihrer begrenzten Zeit mit den SuS nicht viel verändern zu können. Welchen Rat geben Sie Berufsanfängern in dieser prägenden Übergangssituation?
Harkcom: Ich kann dieses Gefühl gut nachvollziehen. Ich rate Ihnen, geduldig mit sich selbst zu sein, weder von sich noch von anderen zu viel zu erwarten und auch die kleinen Veränderungen wahrzunehmen. Vielleicht hilft auch hier ein Reframing: „Nicht viel“ verändern zu können bedeutet eben nicht, „nichts“ verändern zu können.
meinUnterricht: Auf unserer Facebook-Seite beschreiben Lehrkräfte immer wieder die Heterogenität der heutigen Schülerschaft als größte Herausforderung. Oft scheint es unmöglich, allen SuS gerecht zu werden. Gibt es Wege mit dieser Aufgabe produktiv umzugehen?
Harkcom: Ja, es gibt einen Weg: Auch die größte und heterogenste Klasse besteht aus einzelnen Kindern. Wir als Lehrer können nie allen zugleich und in gleichem Maße gerecht werden, aber wir können versuchen, einzelnen Kindern gerecht zu werden – indem wir sie sehen, ihnen unsere Hilfe anbieten und auch respektieren, wenn Einzelne unsere Hilfe gerade nicht annehmen können oder wollen.
meinUnterricht: Jungen Lehrkräfte sehen gerade angesichts von Unterrichtsstörungen mit der Frage konfrontiert: Was für eine Lehrperson will ich sein und wie sollte ich am besten sein – streng, einfühlsam, fordernd? Mit Blick auf das Thema Persönlichkeit und häufige Glaubenssätze: Wie wichtig ist Autorität und sollte man sich verstellen?
Harkcom: Natürlich sollte man sich nicht verstellen. Am glaubwürdigsten ist man immer dann, wenn man authentisch ist. Jedoch verändert sich die Lehrerpersönlichkeit im Laufe des Berufslebens. Die Entwicklung der „professionellen“ Persönlichkeit ist eine große Herausforderung im Lehrerberuf. Man sollte die eigenen Ziele, die Glaubenssätze, das Handeln immer wieder kritischen Prüfungen unterziehen. Dabei ist es auch hilfreich, sich von den Schülern ein Feedback geben zu lassen. Im Internet lassen sich leicht entsprechende Fragebögen finden. Andererseits sollte man sich unabhängig machen vom Lob der Schüler und Eltern und zu sich und seinen Prinzipien stehen. Streng und zugleich einfühlsam zu sein, schließen sich dabei nicht aus. Lehrkräfte reagieren professionell, wenn sie angemessen reagieren.
Autorität ist nicht einfach da. Ich erlange sie – im besten Fall – im Laufe der Zeit. Und auch dann bleibt sie nicht für immer: Mal habe ich sie mehr, mal weniger und manchmal verschwindet sie auch, wenn ich sie gerade am nötigsten bräuchte.
Stephanie Harkcom ist Realschullehrerin für Geschichte, Gemeinschaftskunde und Englisch und unter anderem als Mentorin in der Lehrerausbildung tätig. Ihr Buch Unterrichtsstörungen meistern. Reframing im Klassenzimmer ist in der Reihe Spickzettel für Lehrer im Carl-Auer Verlag erschienen.
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